Hinter den Zahlen: Gesichter der Wohnungslosigkeit
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Eine Aktion des Beratungs- und BildungsCentrums der Diakonie Münster
„Hinter den Zahlen: Gesichter der Wohnungslosigkeit“ – das war der Titel einer Veranstaltung des Beratungs- und BildungsCentrums der Diakonie Münster, die im Vorfeld des Tages der Wohnungslosen am Dienstag, 10. September, im Cinema stattfand. Das besondere Verdienst der von Marcus Hopp und Sarah Arning organisierten Aktion lag darin, sowohl die unterschiedlichen Lebensgeschichten und Schicksale wohnungsloser Menschen in den Blick zu nehmen als auch wirkungsvolle Maßnahmen zur Bekämpfung der Wohnungslosigkeit zu diskutieren. Bestsellerautor Dominik Bloh, der selbst zehn Jahre von Wohnungslosigkeit betroffen war, las aus seinem Buch „Unter Palmen aus Stahl“ und schilderte eindrücklich seine Erlebnisse und Erfahrungen mit Wohnungslosigkeit. Eingerahmt wurde die Veranstaltung von zwei Dokumentarfilmen und einer Podiumsdiskussion mit Gabriele Zumbrink (LWL), Sylvia Rietenberg (Grüne), Bernhard Mühlbrecht, der seit Jahrzehnten in der münsterischen Wohnungslosenhilfe aktiv ist, und Dominik Bloh. Jenny Heimann, Radio WAF, moderierte den Nachmittag.
Wohnen ist ein Menschenrecht
Auch in Münster ist die Lage ernst: Aktuell gelten hier 2097 Menschen als wohnungslos. „Das sind 2097 persönliche Schicksale und ganz persönliche Geschichten“, sagte Bürgermeisterin Maria Winkel (SPD) in ihrem Grußwort. 2097: Diese Zahl müsse kleiner werden, so Maria Winkel, die ihren Blick in diesem Zusammenhang auch auf die gleichnamige großangelegte Kampagne des Sozialamtes und freier Träger richtete. Mit der Kampagne würde das Thema in die Öffentlichkeit getragen. Das sei leider bitternotwendig, denn wohnungs- und obdachlose Menschen hätten in der Politik keine starke Lobby.
Der theologische Vorstand der Diakonie Münster, Sven Waske, betonte, dass Wohnen mehr sei als ein Dach über dem Kopf. Es sei ein Ort der Sicherheit, der Teilhabe und Gemeinschaft. „Wohnen ist ein Menschenrecht. Dieses darf auch in wirtschaftlich angespannten Zeiten nicht von der Kassenlage abhängig sein, denn Wohnungslosigkeit hat Gesichter“, betonte Sven Waske zu Beginn der Veranstaltung. Wohnungslosigkeit werde man nur gemeinsam überwinden. Deswegen brauche es eine gemeinsame Strategie und Vernetzung. Dazu gehörten Bund und Länder, Kommunen und Wohlfahrtsverbände, soziale Träger und viele weitere Menschen.
Ein Mensch braucht Menschen
Schnell wurde klar, dass Wohnungslosigkeit längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist und auch Berufstätige und Familien betrifft. Gründe von Wohnungslosigkeit sind zahlreich: Armut, Krankheit, Scheidung und Kündigung sind nur einige davon. Dieses zeigten auch die Lebensgeschichten von Betroffenen in den beiden Dokumentarfilmen „Leben ohne Zuhause“ und „Leben auf der Straße – Obdachlos und abgehängt“.
Kein Mensch werde freiwillig obdachlos. Das habe auch nichts mit gescheiterten Existenzen zu tun, sagte Dominik Bloh, der mit 16 Jahren für ein Jahrzehnt auf der Straße landete. Die prekäre Lage auf der Straße sei ein Überleben. Bloh initiierte u.a. das Projekt „GoBanyo“. Dabei handelt es sich um einen Duschbus für Obdachlose. Für sein Engagement erhielt er das Bundesverdienstkreuz. Heute berät er die Bundesregierung und wirkt am „Nationalen Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit“ mit. Mit Blick auf die Zeit auf der Straße bekomme er die meiste Anerkennung dafür, dass er sein Abitur gemacht habe. In all den Jahren sei aber nicht eine Person zu ihm gekommen, die gesagt hätte, dass sie es bewundernswert fände, dass er die Straße überlebt hätte. Der Leistungsgedanke bediene jedoch eine gefährliche Ideologie. Schule – das sei für ihn von Montag bis Freitag von 8 Uhr bis 13.30 Uhr ein warmer sicherer Raum gewesen – ein guter Grund, gerne zur Schule zu gehen. Der wichtigste Grund, in die Schule zu gehen, aber war für ihn ein anderer: „Wir Menschen sind soziale Wesen. Das bedeutet, wir müssen immer ein Teil von etwas sein. Und ich habe mich auf der Straße, wie sehr viele andere, gefühlt wie Dreck und wie nichts. Ich wusste aber damals, solange ich weiter zur Schule gehe, solange bin ich ein Schüler. Ich hab‘ noch dazugehört.“ Und dann richtete sich Dominik Bloh mit einer Frage direkt an die Teilnehmenden: „Welche Geschichten wollen wir in Zukunft erzählen? Die, von dem, der sich sehr anstrengt und dann entlohnt wird, weil er etwas leistet, oder meine Geschichte, die eigentlich sagt: Ein Mensch braucht Menschen.“
Schnell handeln und umdenken
In der anschließenden Podiumsdiskussion sprach sich Bernhard Mühlbrecht dafür aus, die verschiedenen Gruppen wie Straßenobdachlose, Menschen, die in Einrichtungen der Wohnunglosenhilfe untergebracht sind und solche, die in städtischen Notunterkünften oder in Einweisungswohnungen leben, zu unterscheiden, um zielgerichtete Hilfen zu schaffen. Die Idee des Nationalen Aktionsplans sei richtig, um passende Strukturen aufzubauen, auch wenn man die Ziele bis 2030 nicht erreichen könne. Dominik Bloh setzte sich dafür ein, die Diskussion nicht von oben herab zu führen und warb dafür, neu zu denken, nämlich zuerst die Hand zu reichen und zu fördern, um dann zu fordern – nicht umgekehrt.
Außerdem müsse mehr Wohnraum geschaffen werden, sagte Gabriele Zumbrink (LWL). Dieses sei der Dreh- und Angelpunkt. Ferner bedürfe es einer besseren Kommunikation der Landesministerien untereinander. Auch auf kommunaler Ebene müsse man sich mehr zusammenkoppeln und die Wohnungswirtschaft mit hineinnehmen, meinte Sylvia Rietenberg (Grüne). Außerdem forderte sie eine sozialpolitische Agenda. Nur bauen, bauen, bauen helfe nicht. Es würden Strukturen gebraucht, die wohnungslosen Menschen ermöglichen würden, in diese Wohnungen reinzukommen. Auch „Housing first“, nämlich Anreize für Menschen zu schaffen, an von Wohnungslosigkeit Betroffene zu vermieten, seien wirkungsvoll. Einiges, auch das zeigte die Diskussion, ist auf dem Weg: So soll zum Beispiel im zweiten Quartal des nächsten Jahres als Teil des gesamtstädtischen Entwicklungsprozesses die soziale Wohnraumagentur Wohnraum auf dem Privatwohnungsmarkt akquirieren und diesen an Wohnungslose vermitteln.
Vieles muss angegangen werden und dass möglichst zügig – das zeigte die Veranstaltung. Einen wesentlichen Beitrag hat sie bereits geleistet, nämlich ein Umdenken des häufig stereotypbesetzten Bildes wohnungsloser und obdachloser Menschen anzustoßen oder wie eine Teilnehmerin es formulierte, die Leistung anzuerkennen, was es bedeute, tagtäglich einen Überlebenskampf zu führen.