Starke Pflege in Münster mahnt Politik zum Handeln
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Brennpunkt Pflege: Werkstattgespräch zur Bundestagswahl
Der Verein „Starke Pflege in Münster“ hat am Freitag, 7. Februar, zum Werkstattgespräch „Brennpunkt Pflege“ mit Svenja Schulze (SPD), Sylvia Rietenberg (Bündnis 90/die Grünen), Maren Berkenheide (Volt), Stefan Nacke (CDU) und Michael Drüppel (Die Partei) eingeladen. Die Resonanz war groß rund zwei Wochen vor der Bundestagswahl. „Die „Starke Pflege in Münster“ hat mittlerweile 22 Träger mit über 50 Einrichtungen aus der ambulanten, teilstationären und stationären Altenhilfe sowie Pflegeschulen als Mitglieder. Unterstützt wird sie von der Stadt Münster. Ziel des Vereins ist es, der Pflege in Münster ein Gesicht und ein gutes Image zu geben“, erläuterte Vereinsvorstand Ulrich Watermeyer zu Beginn. Auf Basis einer Forsa-Umfrage verwies er darauf, dass Gesundheit und Pflege für die deutsche Bevölkerung höchste Priorität genieße – noch vor Wirtschaft und innerer Sicherheit. „Umso erstaunlicher ist es, dass trotz der Probleme einer alternden Gesellschaft Pflege in der politischen Diskussion kaum auftaucht oder kaum auftauchte. Das wollen wir ändern“, so Ulrich Watermeyer. Vier Themenblöcke standen beim „Brennpunkt Pflege“ zur Diskussion, die aus Sicht des Vereins dringend politisch angegangen und gelöst werden müssen: eine grundlegende Reform der Pflegeversicherung, das Auflösen von starren Sektorgrenzen, die Anpassung der Ausbildung sowie die Bedeutung der Digitalisierung. Yvonne Plöger, Koordinatorin des Vereins und Moderatorin der Veranstaltung, machte gleich zu Anfang deutlich: „Wir bieten etwas an als Expertinnen und Experten, was mit in den demokratischen Prozess nach Berlin genommen werden soll. Wir helfen gerne mit, die Probleme zu lösen.“
Grundlegende Reform der Pflegeversicherung
Ulrich Watermeyer, auch Geschäftsführer der ambulanten und stationären Seniorendienste der Diakonie Münster, forderte eine grundlegende Reform der Pflegeversicherung. Die Pflegeversicherung sei als Teilleistungssystem konzipiert worden, das je nach Versorgungsform und in Anspruch genommener Leistung unterschiedlich hohe finanzielle Eigenanteile der pflegebedürftigen Menschen voraussetze. Seit ihrer Einführung habe sich jedoch die Zahl der anspruchsberechtigten Empfängerinnen und Empfänger auf über sechs Millionen erhöht, ebenso auch die Leistungsansprüche. Zusätzlich würden vermehrt versicherungsfremde Leistungen durch die Pflegeversicherung finanziert. Das führe zu einer dramatischen Unterfinanzierung der Pflegeversicherung. „2.700 bis 3.000 Euro – abhängig von der Verweildauer in der stationären Pflege – sind von einer durchschnittlichen Rente von 1.500 Euro nicht zu zahlen“, betonte Ulrich Watermeyer und mahnte eindringlich: „Pflegebedürftigkeit ist ein Armutsrisiko – eine Reform der Pflegeversicherung ist überfällig.“ Die Pflegeversicherung müsse als Vollversicherung ausgestattet werden. Zumindest müssten die Eigenanteile der Pflegebedürftigen gedeckelt werden und die Pflegeversicherung die darüberhinausgehenden Kosten übernehmen. Außerdem benötige es eine echte Leistungsdynamisierung, bei denen die Leistungsansprüche der Pflegebedürftigen jährlich den Kostensteigerungen angepasst würden.
Stefan Nacke (CDU) sagte: „Mittelfristig können wir, glaube ich, nicht zu so einem System kommen.“ Zu große Summen müssten bewältigt werden. Der demografische Wandel sei aber ein großes Thema, dass man nicht allein den Beitragszahlern aufbürden könne. „Wir werden als gesamte Gesellschaft mehr Geld in die Altersvorsorge und in die Pflege stecken müssen.“ Außerdem würden pflegende Angehörige eine besondere Leistung erbringen. 80 Prozent der Pflegebedürftigen würden zu Hause gepflegt. Daher müsse geprüft werden, was an Lohnersatzleistungen möglich sei. Maren Berkenheide (Volt) sprach von einem systemischen Problem, weshalb grundlegend etwas geändert werden müsse. So müssten auch Beamte und Selbständige in die Pflicht genommen und die große Herausforderung auf viele Schultern verteilt werden. Svenja Schulze (SPD) betonte, dass Pflege verlässlich sein und der Staat die Verlässlichkeit sicherstellen müsse. Als eine Idee nannte sie einen Risikoausgleich zwischen den Kassen, denn aus der privaten Pflegeversicherung gebe es keinen Risikostrukturausgleich. Eine der Forderungen der SPD sei daher, einen Risikostrukturausgleich zwischen den Kassen zu erwirken. Das SPD-Wahlprogramm sehe auch einen Pflegekostendeckel vor. Nicht mehr als 1.000 Euro monatlich sollten aus der eigenen Tasche bezahlt werden; der Rest müsse solidarisch getragen werden. Das würde das Risiko rausnehmen, dass man im Alter verarmt, weil man derart viel für die Pflege zahlen müsse. „Wir werben für das Modell der Bürgerversicherung“, betonte Sylvia Rietenberg (Bündnis 90 /Die Grünen). Die Kosten der Privatversicherten und der gesetzliche Versicherten sollten gleichmäßig verteilt werden, sodass es zu einem solidarischen Finanzausgleich komme. So gebe es eine Finanzierung von Gesundheit und Pflege, die verlässlicher und gerechter sei, weil die Stärkeren die Schwächeren mittragen würden. Außerdem wolle man die Beitragsbemessung reformieren und auch Kapitaleinnahmen zur Finanzierung des Gesundheits- und Pflegesystems heranziehen, so Sylvia Rietenberg (Bündnis 90/Die Grünen).
Auflösen von starren Sektorgrenzen
Bernhard Sandbothe, Abteilungsleiter stationäre außerklinische Pflege der Alexianer Münster, plädierte für ein Auflösen von starren Sektorgrenzen. Angehörige und Pflegebedürftige fänden sich im Bürokratie- und Antragsdschungel nicht zurecht. Auch die Pflegeangebote im Quartier seien oft nicht bekannt. Deswegen sollten sogenannte Case Manager beim Finden von passenden Pflegeangeboten unterstützen genauso wie bei der Beantragung von Leistungen. Sie sollten pflegenden Angehörigen beratend zur Seite stehen und überprüfen, ob die Pflege sichergestellt werde. Die stationäre Pflege solle Module und Basispakete anbieten, die einzeln gebucht werden könnten. Die Einrichtungen würden dann Wohnraum und Hauswirtschaft anbieten, die Pflege würde über einen Pflegedienst erfolgen. Angehörige könnten selbst Leistungen erbringen wie etwa die Pflege am Wochenende. Die Betreuung von Pflegebedürftigen in Tagespflegen werde außerdem behindert durch eine überbordende Bürokratie und unrealistische bauliche Anforderungen. Dieses müsse verändert werden. Die Tagespflegen sollten ausschließlich Betreuung anbieten, die Pflege über einen ambulanten Pflegedienst erfolgen.
Sylvia Rietenberg (Bündnis 90/Die Grünen) stimmte zu und hob die große Bedeutung der Quartiere hervor. Außerdem müsse abgesichert werden, dass es für pflegende Angehörige – wenn sie z.B. aus dem Beruf aussteigen oder Stunden reduzieren würden – eine Kompensation geben müsse. Auch Svenja Schulze (SPD) betonte, dass viele, die gepflegt werden müssten, am liebsten in vertrauter Umgebung blieben: „Deswegen finde ich es sehr wichtig, dieses – solange es geht – zu ermöglichen und pflegende Angehörige zu unterstützen. Dafür muss etwa die Familienpflegezeit und das Familienpflegegeld weiterentwickelt werden.“ Stefan Nacke lobte den realistischen Blick auf die Notwendigkeit der Überwindung von Sektorgrenzen: „Ich glaube, dass wir wahrscheinlich genau zu solchen Ideen hinkommen müssen, weil wir in ein Mangelsystem hineinwachsen werden. Es geht darum, dass wir unsere Prozesse effektiver gestalten, und wir müssen neue Formen von Kooperationen schaffen.“ Daher müsse der Fokus auf zentrale Fragen gerichtet werden: Was leisten die Einrichtungen als Träger? Wie lassen sich stationäre und ambulante Angebote sinnvoll verbinden? Und wie können Ehrenamtliche, Fachkräfte und Angehörige besser zusammenwirken?
Anpassung der Ausbildung
Ruth Sander, Geschäftsleitung Klarastift, forderte eine Anpassung der Ausbildung. 2020 wurde die generalistische Pflegeausbildung eingeführt. Die Idee sei gewesen, die Alten- und Krankenpflege zu verbinden, die Akzeptanz der beiden Berufe zusammenzuführen und die Altenpflege zu professionalisieren, aber auch der Krankenpflege zu helfen, mit den immer älter werdenden Patienten im Krankenhaus gut und professionell umzugehen. Probleme seien, dass die generalistische Pflegeausbildung einen sehr niedrigen schulischen Zugang habe, nämlich den Hauptschulabschluss. So bangten einige Pflegeschulen um die Qualifizierung der Schüler, die dort anfingen. Außerdem würden die Pflegeschulen, die damals die Krankenpflegeschulen waren, noch sehr krankenhauslastig ausbilden. In den ehemaligen Pflegefachseminaren für Altenhilfe ginge es umgekehrt sehr altenpflegelastig zu. Wie gut ausgebildet seien generalistisch ausgebildete Pflegemitarbeiter also für die einzelnen Bereiche? „Da wünschen wir uns Nachbesserung“, sagte Ruth Sander. Wer die dreijährige Ausbildung nicht schaffe, stehe ohne Abschluss da. Besonders für Auszubildende mit Migrationshintergrund, die aufgrund von Sprachbarrieren die Prüfung nicht beständen, habe das gravierende Folgen: Nach drei Jahren hielten sie nichts in der Hand. Um den Aufenthaltsstatus zu sichern, müssten sie die gesamte Ausbildung erneut durchlaufen. Das werfe nicht nur Fragen nach Kosten und Effizienz auf, denn man brauche auch dringend Pflegekräfte. Stefan Nacke (CDU) wies darauf hin, dass man darauf warte, dass zum Ende des Jahres eine Evaluation der generalistischen Ausbildung stattfinden würde. Das Thema Spezialisierung sei in der Tat ein Problem. Diejenigen, die nach dem Examen in den Beruf reingehen würden, fühlten sich häufig nicht genügend vorbereitet. Svenja Schulze (SPD) stellte insgesamt eine breite Einigkeit fest: Das System zurückdrehen, wolle keiner. Jetzt müsse man schauen, wie man es insgesamt verbessere und beispielsweise dafür sorgen, dass es einheitliche Curricula gebe. Vorschläge dafür lägen vor; diese müssten jetzt angegangen werden. Zusammen mit Sylvia Rietenberg (Bündnis 90/Die Grünen) richtete sie auch den Blick auf die Frage, wie Pflegekräfte in ihrem Job gehalten werden könnten.
Bedeutung der Digitalisierung
Frank Jansing, Direktor der DKV-Residenz am Tibusplatz, nahm ein weiteres Thema in den den Fokus. Mit begrenzten Ressourcen auskommen zu müssen, würde den Pflegealltag prägen. Digitalisierung böte eine große Chance, die Pflegeprozesse zu optimieren, das Personal zu entlasten und der Nachfrage gerecht zu werden. „Unser Ziel ist es, digitale Lösungen so einzusetzen, dass sie die Pflegequalität steigern und die Arbeit der Pflegekräfte erleichtern. Doch dieser Weg ist anspruchsvoll“, so Frank Jansing. Es gebe derzeit verschiedene Ansätze zur Refinanzierung in der Pflege. Die bewilligten Beträge deckten häufig nicht die tatsächlichen Kosten. Es würden klare gesetzliche Regelungen fehlen zur vollständigen Erstattung digitaler Investitionen. Fördermittel seien häufig einmalig, obwohl laufende Kosten für Wartung und Updates verursacht würden. „Wir brauchen bundeseinheitliche Richtlinien, die Digitalisierungskosten klar und nachvollziehbar regeln“, forderte Frank Jansing. Neue Technologien könnten Pflegekräfte unterstützen. Beispiele seien etwa digitale Medikationssysteme oder die sensorbasierte Vitalzeichenüberwachung. Technologie solle repetitive und administrative Aufgaben abnehmen, damit mehr Zeit für persönliche Pflege bleibe. Technische Hilfsmittel könnten anteilig im Personalschlüssel anerkannt werden. Hierzu sei eine wissenschaftliche Bewertung des Entlastungseffekts notwendig. Beispiele wie automatisierte Dokumentationssysteme oder KI-gestützte Dienstplanung zeigten, dass diese Technologien wertvolle Arbeitszeit freisetzen könnten. Dabei sei sicherzustellen, dass Technik nur als Ergänzung diene und nicht die menschliche Pflege in den Hintergrund rücke. „Die Seele der Pflege bleibt der Mensch“, betonte Frank Jansing.
Stefan Nacke (CDU) sagte, man müsse alles tun, was an Entlastung möglich sei, damit Zeit für die Pflege bleibe. Digitalisierung sei sinnvoll. Auch Svenja Schulze (SPD) unterstützte das Anliegen und hob hervor, dass Digitalisierung ein sehr guter Ansatz sei, um die Pflegequalität zu steigern und den Pflegekräften das Leben leichter zu machen. Sie dürfe die menschliche Pflege aber nicht ersetzen. Sylvia Rietenberg (Bündnis 90/Die Grünen) schloss sich dem an und betonte die Notwendigkeit der Refinanzierung. Auch Maren Berkenheide (Volt) unterstützte das Anliegen in der Diskussion und meinte, dass es wichtig sei, dass von Seiten der Politik gute Rahmenbedingungen geschaffen werden müssten.
Jetzt ist politisches Handeln gefragt
Bis auf einzelne Ausnahmen – wie beispielsweise die Frage nach einer Teilleistungsversicherung oder einer Pflegevollversicherung – herrschte von politischer Seite bei vielen Themen Einigkeit. Einig war man sich von Seiten der Expertinnen und Experten darüber, dass nun endlich gehandelt werden müsse. Die Vorschläge hierzu lägen vor.