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Zusammenhalt braucht keine Alternative

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Sozialpolitische Diskussion in Kinderhaus

„Zusammenhalt braucht keine Alternative!“ Das war die klare Botschaft der sozialpolitischen Diskussion anlässlich des 25-jährigen Bestehens des ökumenischen Sozialbüros in Münster-Kinderhaus. Dass gesellschaftlicher Zusammenhalt besonders schützenswert und fragil ist, lag angesichts der Ergebnisse zur Europa-Wahl auf der Hand. So wollte der Austausch einen wichtigen Beitrag zur Orientierung in einer sehr unübersichtlichen schwierigen sozialen Lage leisten.

Auf dem Podium vertreten waren Maria Löhr-Hartmann und Heinrich Ruholl, beide ökumenisches Sozialbüro Kinderhaus, Barbara Stoll-Großhans, Pfarrerin der evangelischen Markusgemeinde, Ulrich Messing, Stadtdechant sowie Pfarrer der katholischen Kirchengemeinden St. Marien, St. Josef und St. Franziskus, Thomas Kollmann, Leiter des Begegnungszentrums Kinderhaus e.V. und Mitglied des Rates der Stadt Münster, Bettina Kraemer, Schuldnerberatung, Pia Stapel, Vorsitzende des Caritasverbandes für die Diözese Münster, Pfarrer Sven Waske, theologischer Vorstand der Diakonie Münster, Jens Wortmann, Politikwissenschaftler und Vizepräsident des Landessportbundes NRW, sowie Karl Gabriel, emeritierter Professor für Christliche Sozialwissenschaften. Moderiert wurde die Veranstaltung von Professorin Ursula Tölle, die ehrenamtlich für das Kinderhauser Sozialbüro tätig ist.

Global denken und lokal handeln

Mit Blick auf soziale Ungleichheit und gesellschaftliche Entwicklungen insgesamt betonte Pfarrer Sven Waske die Bedeutung dreier globaler Themen, die bereits in der ökumenischen Bewegung seit 1983 im Sozialbüro in Kinderhaus eine Rolle spielten –  nämlich Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. Gleichzeitig würden diese auf die großen Krisen dieser Zeit hinweisen: soziale Armut und fehlende Gerechtigkeit, Krieg und Gewalt sowie der Klimawandel – Krisen, die sich nicht solitär voneinander lösen lassen würden. Dabei seien die einzelnen Probleme zahlreich. Beispiel „Armutsrisiko“: So seien etwa zwei von fünf Alleinerziehenden dem Risiko relativer Armut ausgesetzt seien, weil sie weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Einkommens verdienen würden, so der theologische Vorstand der Diakonie Münster. Mit Blick auf das wichtige Thema „Bildung“ hob er lobend hervor, dass 80 Prozent der Kinder im Grundschulalter in Kinderhaus in der Übermittagsbetreuung und in der Offenen Ganztagsschule betreut würden und damit mehr Chancengerechtigkeit erfahren würden. Mit Blick auf den internationalen Vergleich sei aber insgesamt eine Weiterentwicklung notwendig. Trotzdem diskutiere man in der Stadt Münster aufgrund der globalen Krisen ein Reduzieren von Aufwänden für die Jugendhilfe und Soziales. „Dabei sind die, auf deren Kosten wir jetzt in der Jugendhilfe diskutieren, zu sparen, die, die im Sinne der Generationengerechtigkeit, unsere Renten finanzieren werden“, so Sven Waske. Es brauche insgesamt mehr Gerechtigkeit. Das gehe nur global denkend und lokal handelnd. Ganz praktisch fange das im Kleinen an, zum Beispiel bei der Ansprache von Menschen, die Anspruch auf Hilfeleistungen hätten, diese aber nicht in Anspruch nehmen würden, weil die Antragstellung zu schwierig und zu bürokratisch sei.

Gesellschaftliche Spaltung verhindern

Auch die Vorsitzende des Caritasverbandes für die Diözese Münster, Pia Stapel, nannte die Notwendigkeit, Zugangshürden zu Leistungen verringern. Durch die wachsende soziale Ungleichheit würde man die Spaltung der Gesellschaft vorantreiben. Als Beispiel nannte sie die Debatte um das Bürgergeld. „Wenn wir diese befrieden, befrieden wir auch ein stückweit die Spaltung“, so Pia Stapel. Es gäbe zentrale Aspekte, an denen Stellschrauben gedreht werden könnten, um die Situation von Menschen, die Bürgergeld beziehen würden, zu verbessern. Manche Menschen bräuchten eine grundsätzliche Hilfestellung, um in den ersten Arbeitsmarkt kommen zu können. Sie bräuchten einen sozialen Arbeitsmarkt. „Den haben Sie in Kinderhaus“, hob die Vorsitzende des Caritasverbandes für die Diözese Münster hervor. Politikwissenschaftler Jens Wortmann sprach gesamtgesellschaftlich von einer Überforderung des Systems. Das von der Christlichen Soziallehre und dem Prinzip der Subsidarität geprägte Modell des deutschen Sozialstaates, sei mit einer zunehmenden gesellschaftlichen Heterogenität konfrontiert. Dabei hätte es längst einen Transformationsprozess durchmachen müssen. Stattdessen sehe es sich zusätzlich multiplen Krisen gegenübergestellt – zum Beispiel ausgelöst durch die Wirtschafts- und Finanzkrise, den Ukrainekrieg oder die Klimakrise. Das führe zu einem Rückbau und zu einem Senken von Standards sozialer Leistungen, zur Übertragung staatlicher Verantwortung auf das Ehrenamt und zur Privatisierung.

Ursula Tölle, ökumenisches Sozialbüro, moderierte die sozialpolitische Diskussion.

Orientierung in einer sehr unübersichtlichen schwierigen sozialen Lage zu leisten, war das Ziel der sozialpolitischen Diskussion. Mit auf dem Podium (v.l.): Pia Stapel, Vorsitzende des Caritasverbandes für die Diözese Münster, Pfarrer Sven Waske, theologischer Vorstand der Diakonie Münster, Jens Wortmann, Politikwissenschaftler und Vizepräsident des Landessportbundes NRW, sowie Karl Gabriel, emeritierter Professor für Christliche Sozialwissenschaften.

Bedeutsamkeit des kirchlichen Ehrenamts

Der in Kinderhaus lebende Professor Karl Gabriel legte den Fokus auf die besondere Bedeutung des Ehrenamtes im Sozialstaat. Sinkenden Mitgliederzahlen der Kirchen und einer schwindenden Religiosität zum Trotz bescheinigte er dem kirchlichen Ehrenamt eine hohe soziale Reichweite. 49 Prozent der Katholiken und 46 Prozent der Protestanten hätten laut der 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung angegeben, im Jahr 2023 ehrenamtlich aktiv gewesen zu sein. Bei den Konfessionslosen seien dies nur 32 Prozent gewesen. In Münster und in Kinderhaus gebe es Gemeinden, die ihren Schwerpunkt auf die diakonische Arbeit legen würden, was eine wichtige Gelegenheitsstruktur für ehrenamtliches Engagement bilde. Zugleich verwies er darauf, dass Ehrenamt und die kirchlichen Wohlfahrtsverbände, Diakonie und Caritas, gegenseitig voneinander profitieren würden.

Große Solidarität in Münster-Kinderhaus

Diskutierten gemeinsam über Sozialpolitik (v.l.): Thomas Kollmann, Heinrich Ruholl, Bettina Kraemer, Barbara Stoll-Großhans, Maria Löhr-Hartmann, Ursula Tölle, Ulrich Messing, Pia Stapel, Karl Gabriel, Jens Wortmann, und Sven Waske.

Diskutierten gemeinsam über Sozialpolitik (v.l.): Thomas Kollmann, Heinrich Ruholl, Bettina Kraemer, Barbara Stoll-Großhans, Maria Löhr-Hartmann, Ursula Tölle, Ulrich Messing, Pia Stapel, Karl Gabriel, Jens Wortmann, und Sven Waske.

Mit Blick auf den Stadtteil Kinderhaus wurde die Bedeutung von Zusammenhalt und Solidarität mehr als deutlich. Dieses zeigte sich insbesondere an den Schilderungen über die wichtige und wertvolle Arbeit des ökumenischen Sozialbüros. 18 Ehrenamtliche leisten dort alltagspraktische, zielgerichtete und unbürokratische Hilfe. Diese reicht von der Hausaufgabenbetreuung über die Organisation von Sprachkursen und zahlreiche weitere Angebote bis hin zur persönlichen Beratung, die mehrmals in der Woche in Anspruch genommen werden kann. Monatlich finden etwa 100 Gespräche statt. Dass Zuhören dabei eine ganz wichtige Rolle spielt, wurde ebenso klar wie die Bedeutung der Unterstützung etwa durch Lebensmittelgutscheine oder haltbare Lebensmittel. Hier war der Bedarf im Vergleich zum Jahr zuvor um 20 Prozent gestiegen. Eine deswegen extra durchgeführte Spendenaktion erbrachte 40.000 Euro. Dabei war insbesondere die Solidarität der Kinderhauser Bürgerinnen und Bürger groß. Das war schon in der Vergangenheit so. Insgesamt konnten in den vergangenen Jahren eine Million Euro an Spenden gesammelt werden.