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Pflegepolitik muss neu gedacht werden

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360-Grad-Blick auf die Pflege

18 Träger vereint die Starke Pflege unter ihrem Dach. „Wir weisen ungeschminkt auf drohende Krisen hin“, sagte Moderator Roland Weigel, Starke Pflege. Mit Maria Klein-Schmeink, MdB (Bündnis 90/Die Grünen), sowie Kathrin Vogler, MdB (Die Linke), war auch die Politik vertreten. Dr. Stefan Nacke, MdB (CDU), hatte krankheitsbedingt absagen müssen. Die Perspektive der Stadt Münster vertrat Cornelia Wilkens, Beigeordnete für Soziales und Kultur.

Es war ein hochsensibles und -emotionales Thema, aber der Verdienst der Beteiligten, dieses vor allem sachlich anzugehen. Denn auch das wurde schnell klar: Die enormen Herausforderungen lassen sich nur gemeinsam und gesamtgesellschaftlich lösen. Es sind dicke Bretter, die gebohrt werden müssen, will man den drohenden Kollaps des Systems noch abwenden.

Hintergrundgespräch zur Pflegepolitik

Ulrich Watermeyer, Geschäftsführer der Stationären und Ambulanten Seniorendienste der Diakonie Münster, berichtet über eine Kostenexplosion in der Pflege. Auf dem Podium (v.l.n.r.): Maria Klein-Schmeink, MdB (Bündnis 90/Die Grünen), Kathrin Vogler, MdB (Die Linke) und Cornelia Wilkens, Beigeordnete für Soziales und Kultur der Stadt Münster.

Probleme klar benennen

Zumindest die Probleme lassen sich klar benennen: ein Mangel in der Versorgung, überbordende Bürokratie, eine Kostenexplosion sowohl im stationären als auch im ambulanten Bereich sowie ein Schwinden der Vielfalt der Angebote.

Versorgung ist gefährdet

Da Pflegekräfte fehlen, könnten derzeit 100 Plätze in Münster nicht belegt werden, berichtet Frank Jansing (DKV-Residenz). Zusätzlich spiegelt der Pflegebedarfsplan der Stadt das Fehlen von 100 stationären Pflegeplätzen. Die Dunkelziffer – davon ist auszugehen – ist deutlich höher. Auch Zuhause könnten die Menschen nicht mehr ausreichend versorgt werden, so Jansing. Längst greife der Grundsatz „ambulant vor stationär“ nicht mehr.  Die Versorgung sei gefährdet, meint auch Cornelia Wilkens. Maria Klein-Schmeink betont, dass der Fachkräftemangel, gerade in der Pflege, der dramatischste von allen Bereichen sei. Man könne nicht so weitermachen wie bisher. Fünf pflegebezogene Gesetze seien im vergangenen Jahr bereits beschlossen worden. Kathrin Vogler spricht sich dafür aus, dass man über ein ganz anderes Finanzierungsszenario nachdenken müsse wie die solidarische Bürgerversicherung.

Menschen, die in der Pflege arbeiten wollen, sollten das auch tun dürfen, lautet die Forderung von Markus Brinkmann (Caritas) aus dem Publikum. Ein Wunsch, der sich gerade im Hinblick auf ausländische Fachkräfte manchmal nur mit großen Anstrengungen, manchmal gar nicht umsetzen lässt. Abschlüsse werden nicht anerkannt, Menschen aus sicheren Herkunftsländern abgeschoben. Es sind nur zwei Beispiele für viele. Nobert Nientiedt, Buchautor und ehemaliger Lehrer und Schulseelsorger, hat sich zum Ziel gesetzt, junge Menschen, die in der Berufsfindung sind, mit Pflegekräften zusammenzubringen. Am Vortag erst hatte eine solche Veranstaltung am Anne-Frank-Berufskolleg stattgefunden.

Bürokratieabbau dringend erforderlich

Bürokratie in der Pflege ist kein neues Thema. Welche Ausmaße diese jedoch annimmt, wird an augenfälligen Beispielen aus der alltäglichen Arbeit deutlich, die Bernhard Sandbothe (Alexianer) schilderte. So machte der Medizinische Dienst (MD) etwa einen Mangel daran fest, dass die Brillengläser eines Bewohners sauber geputzt waren, das Putzen der Brille jedoch nicht im Maßnahmenplan vorgesehen war. Freiheitsentziehende Maßnahmen seien in seiner Einrichtung ausgeschlossen worden, so Sandbothe, trotzdem sei vom MD ein Konzept zur Vermeidung freiheitsentziehender Maßnahmen und Informationen zu entsprechenden Schulungen für Mitarbeitende gefordert worden. Auch regelmäßige Null-Meldungen seien erforderlich. Fehlende Terminabstimmungen führten zu Doppelprüfungen. Dass Bürokratie also abgebaut werden müsse war einhellige Meinung. Maria Klein-Schmeink verwies auf das geplante Bürokratieabbaugesetz und auch das Pflegekompetenzgesetz, das deutliche Entlastung bringen solle, damit die Pflege beispielsweise selbst verordnen kann.

Kosten explodieren

Durch die neue Personalbemessung gebe es 20 Fachkräfte mehr bei der Diakonie, berichtete Ulrich Watermeyer. Zu Anfang Februar jedoch werde die Bezahlung durch die Krankenkassen eingestellt. Für die Bewohnerinnen und Bewohner entstehe dadurch eine Kostenexplosion von monatlich 500 bis 800 Euro. Angehörige seien verzweifelt. Denn wer könne als Selbstzahler Heimkosten von 3.000 bis 4.000 Euro aufbringen? Menschen rutschten zwangsläufig ins Pflegewohngeld – Geld, was im kommunalen Haushalt an anderer Stelle fehle, berichtet Cornelia Wilkens.

Auch im ambulanten Bereich, so Ulrich Watermeyer (Diakonie), finde durch die tarifliche Entwicklung und Inflation eine Kostensteigerung statt, die enorm sei. Leistungen würden teurer, sodass die Nutzerinnen und Nutzer diese selbst kürzen müssten. Auch Tagespflege- und Kurzzeitpflegeleistungen müssten von den Leistungsnehmerinnen und -nehmern reduziert werden.

Die Kostenträger selbst seien damit überfordert, Vergütungsverhandlungen zeitnah durchzuführen. Tarifliche Steigerungen müssten vorfinanziert werden und nachträglich den Bewohnerinnen und Bewohnern in Rechnung gestellt werden. Was das bedeute, könne man sich vorstellen. Kleine Träger und Pflegedienste bekämen Liquiditätsprobleme und auch für die größeren Träger werde es immer schwieriger, die Leistungen zu erbringen.

Vielfalt der Angebote schwindet

Ruth Sander (Klarastift) sieht die Notwendigkeit, das Konzept der Wohngemeinschaften neu zu überdenken. Die geltenden Anforderungen an die Wohngemeinschaften seien heute nicht mehr zu erfüllen. Da die Menschen immer höhere Pflegegrade hätten, sei der ambulante Dienst rund um die Uhr in den Wohngemeinschaften. Es entstehe eine Kostenexplosion von 5.000 bis 6.000 Euro Eigenbeteiligung.

Außerdem wurde klar, dass sich sowohl für die ambulante als auch für die stationäre Pflege die Frage stelle, wer gepflegt werden könne. Es drängt sich der Eindruck auf, dass das zunehmend zu einer Frage des wirtschaftlichen Überlebens wird. Das sei nicht auszuhalten, sagt Ruth Sander. Was sei dann mit herausfordernden Patienten, mit jungen Pflegebedürftigen oder Menschen am Rande der Gesellschaft?

Bei derart großen Herausforderungen könne man nur zusammenwirken, betonte Maria Klein-Schmeink. Kathrin Vogler forderte gar eine Pflegerevolution. Und Cornelia Wilkens sagte, man müsse sich daraus befreien, am jetzigen System herumzudoktern und die Pflege neu denken!